An der Kinokasse war ich zunächst irritiert, denn es wirkte, als hätten sämtliche Altenheime gleichzeitig Ausgang und besuchten zur Feier des Tages einen Film. Die wollen doch nicht etwa? Doch, sie wollten. Sie wollten alle zum Arzt und standen deswegen Schlange vor der Kinokasse, weil auf dem Plakat der Medicus lockte. Schon klar.
Ist der Medicus von Noah Gordon Sehnsuchtsliteratur für Rentner? Damit hatte ich nicht gerechnet, auch nicht damit, dass der Kinosaal voll wurde. Ziemlich voll. Das wäre an und für sich eine erfreuliche Tatsache: Endlich mal ein wirklich begehrter Film. Warum musste dann aber jeder, der an der Kasse endlich an der Reihe war, die Wahl des richtigen Sitzes endlos diskutieren?
Während des geduldigen In-der-Schlange-stehens blieb genug Zeit, um Max, meinen inneren Schweinehund, sehr energisch darauf hinzuweisen, dass ich in dreißig Jahren nicht so umständekrämerisch, kompliziert, langatmig und stundenlang mit der Kartenverkäuferin an der Kinokasse diskutieren möchte, welcher Sitz bei Bandscheibenvorfall, Arthrose und Grauem Star der optimale und einzig mögliche Sitz im Kino sei, bis alle hinter mir Wartenden vor lauter Erschöpfung zusammenbrechen. Ich bin allerdings optimistisch, weil ich Entscheidungen bisher immer fix treffe - und so hoffe ich darauf, dass ich später nicht wegen eines Sitzplatzes im Kino eine Grundsatzdebatte beginne, die gefühlt ebenso lange dauert, wie der Film.
Nach dem Film zeigte mir ein kritischer Blick auf den Abspann: Der Medicus wurde nicht von der Apotheken-Umschau gesponsert. Denn hier geht es um die Reise eines jungen Mannes und dessen Sehnsucht nach Wissen. Doch wenn ein dickes Buch in einem einzigen Film gezeigt werden soll, dann geht es nicht ohne Vereinfachung ab. Das ist beim Medicus der Fall. Leider. Denn auf diese Weise geht viel von der Atmosphäre und der Ambivalenz der Figuren verloren. Ob in der Liebesgeschichte zwischen Rob und Rebecca - die es im Buch nicht gab - oder in der Darstellung des schönen Karim, der an der Pest stirbt: Alles das, was im Buch spannend und interessant war, wurde holzschnittartig dargestellt. Im Film sind die Christen schmutzige, aber gute Menschen. Juden sind sauber und loyal zu dem, von dem sie Geld bekommen. Muslime sind entweder genußsüchtig (Karim), grausam (der Schah) oder intrigant (der Mullah). Gerade der Konflikt zwischen den fundamentalistischen und den aufgeklärten Muslimen wurde so karikiert dargestellt, als wäre das Drehbuch von Monty Python.Fehlte nur noch, dass sich die Schurken die Bartspitzen zwirbeln, während sie ihre Missetaten planen. Die Reise von England nach Isfahan, für die im Buch mehrere Jahre vergingen, wurde im Film kurz und knackig mit einem Sandsturm abgehandelt. Auch die Beleuchtung ließ zu wünschen übrig. Warum musste alles so funzelig beleuchtet sein? Und den Chefarzt möchte ich heutzutage sehen, der den jungen Assistenten mit einer großartigen und noch nie ausprobierten Methode die lebensrettende Operation am Staatsoberhaupt durchführen lässt.
Genug gemeckert.
War eine nette Unterhaltung, aber einmal gucken reicht völlig aus.
Hinterher habe ich mich tatsächlich noch ein bisschen schlau gemacht: 1987, also vor mehr als 25 Jahren, kam die erste deutsche Ausgabe des Medicus auf den Markt (Willy Thaler hat das Buch übersetzt), insgesamt wurden davon mehr als sechs Millionen Bücher verkauft. Noah Gordon ist inzwischen 87 Jahre alt und lebt in einer Wohngemeinschaft für Senioren. Ob die Kinogänger von heute damals alle das Buch verschlungen und von der weiten Welt geträumt haben, während sie darauf warteten, dass der Mann von der Arbeit und das Kind aus der Schule ins propere Eigenheim kamen?
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